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Ein altes Ratzeburgisches Bauerngericht

Von Dr. G. Ringeling.

Im Museum des Altertumsvereins für das Fürstentum Ratzeburg befindet sich ein vergilbtes Blatt Papier, das einen der interessantesten Berichte aus der Kulturgeschichte unserer Bauernschaft enthält. Es trägt nicht Datum noch Unterschrift oder Siegel, es ist eines jener grauen, löschpapierartigen, brüchigen Blätter, wie man sie für die Akten des 16. und 17. Jahrhunderts benutzte. In der Mitte gebrochen und beiderseitig flüchtig beschrieben, stellt es wahrscheinlich den Kladdeentwurf eines Amtsschreibers dar. Der Schrift nach gehört es in die erste Hälfte des 17. Jahrhunderts. Seine Überschrift in dem weitschweifigen, pomphasten Kanzleistil jener Zeit lautet:

„Bericht, wie und welchergestalt im Fürstentum Ratzeburg nach alter Gewohnheit das 
Landgericht ist gehalten word und was für Solemnitäten etwan dabey beobachtet werden.“

Nicht in die enge Amtsstube führt uns unser Berichterstatter, noch ist das Recht und seine Handhabung nicht eine schwierige und dem gemeinen Manne unverständliche Kunst, in fremde, lateinische Sprache gefasst und von gelehrten Puderperücken verwaltet, sondern uralte, von den Vätern mündlich überlieferte Weisheit. Keines gelehrten Sachwalters bedarf der Kläger und Angeklagte, kein seinem Rechtsempfinden fremder Richter spricht das Urteil: die Gesamtheit der Standesgenossen selbst spricht Recht und setzte Bußen nach altem Brauch der Väter.

Denn das Landgericht ist zugleich das Landgedinge (die Versammlung der ganzen Bauernschaft) die alle Strei-tigkeiten in ihrem Schoße regelt und entscheidet. Bestimmte Orte sind es, an denen zu festgesetzten Zeiten das Landgedinge sich versammelt. Heute noch lebt in manchen Flurnamen die Erinnerung daran fort. Unter der alten Gerichtslinde in Schlagsdorf z. B. ist lange Zeit Gericht gehegt worden. Dorthin entbietet „auf determinierte Zeit“ die landesfürstliche Obrigkeit die Untertanen. Aus allen Dörfern kommen sie zusammen, früh bei Sonnen-aufgang, denn nur solange die Sonne am Himmel steht, darf ein öffentliches Gericht tagen. Noch wogt die Men-ge unruhig hin und her. Etwas abseits stehen die fürstlichen Vögte und Amtsleute, unter ihnen auch der Dings-mann, d. h. der Beamte, dem die Aufsicht und Leitung des Dinges zusteht. Jetzt tritt aus der Versammlung ein alter, grauhaariger Schulze vor, der älteste der hier versammelten, und tritt dem Dingsmann gegenüber. Die Menge schließt sich um beide, das Flüstern und Tuscheln verebbt, Totenstille liegt über dem Platz, über den des Alten klare, ruhige Stimme geht: „Dingsmann! Ich frage Euch, ob es wohl soviel Tageszeit ist, dass ich allhier von Gottes und meines gnädigen Fürsten und Herrn und dero Herren Räte oder Beamten wegen, die allhier gegenwärtig sitzen und das Höchste und Niedrigste, das Größte und Kleinste mit Hals und Hand über uns und über die Stätte, da meines gnädigen Fürsten und Herrn Räte oder Beamten sitzen und ihre Leute stehen haben, mag ein öffentliches sächsisches Recht hegen und halten.“

Als er schweigt, entgegnet der Dingsmann: „Ja! Da Ihr solches von Gottes und unseres gnädigen Fürsten und Herrn, auch dero wohlverordneten Herren Räte oder Beamten wegen, so allhier gegenwärtig und dazu bevoll-mächtigt seien, zu tun befehligt seid, möget Ihr solches wohl tun.“

Jetzt wendet sich der Alte und ruft über die Versammlung hin: „Zum erstenmal will ich allhier von Gottes und meines gnädigen Fürsten und Herrn und dero allhier gegenwärtig sitzenden Herren Räten und Beamten wegen, so das Höchste und Niedrigste, das Kleinste und das Größte mit Hals und Hand über uns, auch über die Stätte, da ihr Leute stehen habet, ein öffentlich sächsisch Recht hegen, dergestalt und also, das dem Recht lieb, Unrecht aber leid ist, demselben, nachdem seine Sache und Anklage sein wird, Recht widerfahren und darzu geholfen werden soll, alles von Rechts wegen. Wer aber klagen will, der soll feste klagen, oder in meines gnädigen Fürsten und Herrn Strafe verfallen sein. Recht gebiete ich, Unrecht verbiete ich wegen meines gnädigen Fürsten und Herrn.“

Er schweigt. Dann wiederholt er: „Zum andernmal will ich allhier von Gottes ……… usw.“

Dann wendet er sich wieder an den Dingsmann und fragt: „Dingsmann! Wie oft soll und muss ich meines gnädi-gen Fürsten und Herrn Recht hegen, dass es Kraft und Macht hat?“

Und auf des Dingsmannes Antwort: „Dreimal!“ geht der Hegespruch zum drittenmal über den Ring.

Und weiter erfolgt folgende Rede und Antwort zwischen dem Alten (dem „Vorsprach“) und dem Dingsmann: „Dingsmann, ich frage Euch, ob ich das Recht geheget habe, dass es Kraft und Macht hat.“

Antwort des Dingsmanns: „Ja, Ihr habt es geheget, dass es Kraft und Macht hat.“

Vorsprach: „Womit soll ich aber meines gnädigen Fürsten und Herrn gehegtes Recht verteidigen?“

Antwort des Dingsmanns: „Ihr sollet scharfe Gewehr und Scheltwort ernstlich verbieten.“

Nun wendet sich der Vorsprach abermals an die Versammlung: „Scharfe Gewehr und Scheltwort, auch heimliche Versuchung und Vorträge verbiete wegen meines gnädigen Fürsten und Herrn ich ernstlich und sage, dass niemand dem Rechte, ehe es wieder aufgegeben, den Rücken geben oder davongehen, und der solches tun wird, in meines gnädigen Fürsten und Herrn Strafe verfallen. Auch so ein Fremder da wäre, der etwa Erbgut zu fordern hätte, sich mit 7 ß, 4 ch einzuwerben schuldig sein soll.“

Das ist die feierliche „Hegung“ des Gerichtes, die uralte Rechtsformel, welche die Versammlung zum Gericht macht und ihren Entscheidungen Rechtskraft gibt. Erst jetzt ist die versammelte Bauernschaft Landgedinge und Landgericht. Aus dieser Vollversammlung heraus wird nun ein Ausschuss von 20 – 24 Männern gewählt, die „Findelsleute“, welche die Entscheidung im Rechtsstreit finden müssen: „Daraus werden aus jedem Dorf etwa ein oder zwei Personen, so man für die Bescheidensten und Vernünftigsten erachtet, sonderlich den Schulzen, so er dazu qualifizieret, zu Findelsleuten etwa 20 oder 24 Personen aus dem Haufen herausgenommen und beiseits gestellet, die auf jede vorfallende Sachen, so denen in loco (am Orte) sich befindenden Herren Räten oder Beam-ten klagend vorgebracht werden, das Recht finden und sprechen müssen. Solche Sachen müssen sie mitanhören, oder sie werden ihnen durch den Dingsmann angetragen, derselbe bringt auch wieder ihre Meinung ein. Sobald denn die Findelsleute dastehen, rufet der Vorsprach: „Wer etwas zu klagen hat, der trete heran und bringe seine Klage vor.“

Ein Rechtsgang, wie der hier beschriebene, ist etwas grundsätzlich anderes als ein Gericht von heute. Was wir hier sehen, ist die altgermanische Gemeinde, die alle Streitigkeiten der Gemeindegenossen als höchste Instanz regelt. Kein Richter entscheidet, sondern die Bauernschaft als solche durch einen Ausschuss. Kein geschriebenes Strafgesetz herrscht, kein römisches, landfremdes Buchstabenrecht, sondern mündlich überliefertes Gewohn-heitsrecht, und nach Billigkeit werden Bußen und Entschädigungen festgesetzt. Die fürstliche Obrigkeit leitet nur das Gericht, die Entscheidung liegt bei der Gemeinde. Ein Stück germanischer Urzeit hat sich bis an die Schwel-le der Gegenwart herübergerettet. Besonders deutlich kommt die altgermanische Auffassung dadurch zum Aus-druck, dass das Gericht eigentlich nur über Streitigkeiten innerhalb seines Kreises, innerhalb der Genossenschaft entscheidet; weshalb denn auch ein Fremder, der hier sein Recht fordert, sich als Genosse einkaufen muss, um nunmehr gewissermaßen als einer aus der Bauernschaft Recht von der Gemeinde zu erhalten.

Eigenartig altertümlich muten auch die Strafen oder Bußen an, welche der Schreiber auf der Rückseite des Blattes verzeichnet. Die höchste Buße ist der alte Königsbann, eine Strafe von 60 Mark. Alle anderen Bußen sind Hälften, Viertel, Achtel usw. dieser Summe. Der Königsbann ruht auf: Verachtung der Herrschaft (gemeint ist wohl Widersässigkeit gegen die Obrigkeitsbefehle), unrechter Mühlenfuhr (d. h. die Benutzung einer anderen als dem Betreffenden zugewiesenen Mühle) und auf Baumfrevel.

Anbei die Aufzählung der Bußen:1)2)

Mark Schilling
Das Höchste ist 60
Verachtung der Herrschaft 60
Unrechte Mühlenfuhr 60
Sehnenbruch 30
Beinbruch 15
Vollkommene Wunde 7 8
Erdfälle 312
Wer unrecht klaget 312
Wer die Wahrheit verschweiget und hernach seiner gehabten Wissenschaft überzeuget wird 7 8
So einer ohne erhebliche Ursache, ohne Entschuldigung vor dem Gerichte nicht erscheint 15
Wo einer zu spät kommt 3
Wo einer dem Rechte, ehe es wieder aufgegeben, den Rücken giebet 3
Wo einer trunken vor Gericht kommt 15
Braun und blau 1 4
Wo sich jemand schlägt und Schaden bekommt 7 8
Wo sich jemand schlägt und niemand Schaden bekommt 10
Wenn einer aber geschlagen wird, dass er zur Erden fällt 312
Scharfe Gewehr 3 4
Heimliche Versuchung 3 4
Afterreden 3 4
Wer einen Baum abhaut 60
Wer einen Telgen abhaut 15
Wer einen Jester abhaut, so dick, dass er nicht durchbohret werden kann 15
Wer eines andern Weiden abschälet 114

Sind alle Klagen erledigt, auch diejenigen der Beamten gegen die Untertanen, so wird in gleich feierlicher Weise, wie es eröffnet, das Landgedinge aufgelöst. Wieder fragt der Vorsprach: „Dingsmann! Ich frage Euch, ob es so ferne Tages mir erlaubt ist, dass ich von Gottes und meines gnädigen Fürsten und Herrn und deroselben allhier gegenwärtig sitzenden Herren Räte oder Beamten wegen, das gehegte Recht wiederum mag aufheben oder aufgeben.“

Und auf des Dingsmanns Antwort: „Ja, daferne Ihr dessen von Gottes und meines gnädigen Fürsten und Herrn und dessen allhier sitzenden Herren Räte und Beamten wegen zu tun befehliget seid, möget Ihr solches wohl tun“ Dann ruft der Alte der Dingsversammlung zu: „Ihr Leute sollet nach Hause gehen, meines gnädigen Fürsten und Herrn Holz lassen stehen, deroselben Wild lassen gehen und deroselben Wasser lassen ungefischet; auch sollet ihr halten euren rechten Mühlenweg, damit tut ihr seiner fürstlichen Gnaden gleich und recht. Mein gnädiger Fürst begehret euren Schaden nicht, wo ihr’s selbsten nicht verursachet.“


Chronik Schattin
Besitzfolge der Erbenhöfe
Die Bauernvogte in Schattin

1)
In Robert Abels' Aufzeichnungen wurden die Währungen mit M und ß abgekürzt, hierbei müsste es sich um die in der Zeit im Lübecker Raum verwendeten Mark und Schilling handeln
2)
1 Mark = 16 Schillinge = 192 Pfennige, Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Lübecker_Münzgeschichte
ein_altes_ratzeburgisches_bauerngericht.txt · Last modified: 2019/04/14 13:20 (external edit)